Mittwoch, 8. Februar 2012

Kurzgeschichte #1: Ein ganz normaler Tag am Strand

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Ein ganz normaler Tag am Strand
von Tony Menzel

      Es war warm und sonnig, der Himmel war blau und selbst die letzten kleinen Schäfchenwolken hatten sich inzwischen verzogen. Es war so, wie man sich einen perfekten Sommertag eigentlich nur hätte vorstellen können. Nicht zu heiß, aber doch genug um sich in der Nähe von Eis und Wasser, oder zumindest Schatten, aufzuhalten. Tim und seine Freunde hatten alles davon. Sie waren schon am frühen Vormittag auf ihre Fahrräder gesprungen und schnurstracks Richtung Strand gefahren. Dort saßen sie nun unter einem großen Schirm, nicht weit vom Wasser und jeder hatte eine große Tüte Eis in der Hand.
In der Mitte lag ein großer Pappteller mit Pommes Frites, von denen inzwischen aber kaum noch etwas übrig geblieben war, außer ein paar Stummeln und einer großen Ketchup-Pfütze.
Die 5 Jungen waren alle gleich alt, was kein Wunder war, da sie alle zusammen in die 4. Klasse gingen. Da waren Ned und Ted, die coolen Zwillinge, die sich für keinen Spaß zu schade waren. Neben ihnen saß Tims bester Freund Mark und ihm gegenüber Dave, der von allen als Streber beschimpft wurde, aber trotzdem irgendwie immer dabei war.
Nun hatten sie aber genug gefaulenzt  und sich die Bäuche vollgeschlagen. Ned und Ted wollten endlich wieder in Wasser, Mark rannte ihnen hinterher und rief seinem Freund zu, mitzukommen. Als Tim aufstand fragte Dave, ob er jetzt wirklich ins Wasser gehen wolle!?
Tim sah ihn verdutzt an und fragte was denn dagegen spräche. Der Streber schüttelte verachtungsvoll seinen Kopf und sagte „Haben deine Eltern dir nie erklärt dass man nicht mit vollem Magen ins Wasser geht?“.
Tim zögerte kurz. Tatsächlich hatten seine Eltern ihm das schon so oft gepredigt und immer musste er eine halbe Stunde warten bis er wieder baden durfte. Das hatte ihn schon immer genervt. „Ach hör doch nicht auf den Streber“ rief ihm Ted zu, der kurz stehen geblieben war. „Jeder weiß doch, dass das nur Ammenmärchen sind, die Eltern erfinden um uns Angst zu machen“, fügte sein Bruder hinzu. „Was soll schon passieren?“

„Auch wieder wahr!“, sagte Tim, der jetzt unbedingt eine Abkühlung wollte. Dave schüttelte noch einmal den Kopf und legte sich dann wieder in den Schatten. Für einen kurzen Moment hatte Tim ein schlechtes Gewissen, den Streber zurückzulassen, doch sofort als er spürte wie die Sonnenstrahlen seine dunklen Haare wärmten, war das alles vergessen.  Mit Freude rannte er ins Wasser, hielt kurz Inne weil er vergessen hatte wie kalt es war und rannte dann weiter bis es tiefer wurde. Seine Freunde lieferten sich eine Wasserschlacht, aber er schwamm lieber. Tim war schon immer ein guter Schwimmer gewesen. Als seine Klassenkameraden gerade erst das Trockenschwimmen lernten, durfte er bereits halbe Bahnen ziehen.
Er schwamm also gedankenverloren immer weiter hinaus, bis die Köpfe der anderen Menschen nur noch klein wie Erbsen waren. Weit genug, dachte er sich und war gerade dabei umzukehren, als er merkte wie das Wasser unruhiger wurde. Komisch, es hatte sich nichts geändert, es war nicht mal ein laues Lüftchen zu spüren und der Himmel war immer noch wolkenfrei. Tim dachte sich nichts dabei und setzte seinen Rückweg Richtung Strand fort. Dann spürte er auf einmal einen starken Sog im Wasser, der ihn zur Seite zog. Als er sich umschaute erblickte er das Letzte, das er in diesem Moment erwartet hätte: Neben ihm hatte sich ein gigantischer Strudel aufgetan, der ihn immer näher in sein Auge zog.  Nannte man das überhaupt Auge bei einem Strudel? Tim wusste es nicht, er hatte sich nie mit Strudelogie beschäftigt. Er würde später mal den Streber fragen müssen…

Schnell schüttelte er den dummen Gedanken wieder ab und realisierte in welcher Gefahr er sich befand. Er drehte sich nun mit dem Strudel und sank immer tiefer und tiefer.
Gerade als er am tiefsten Punkt angekommen war, spürte er unerwartet etwas Festes unter den Füßen. Es sah aus wie ein großer Felsen, der immer größer und größer wurde und aus dem Wasser empor stieg. Es war, wie hätte es anders sein können, ein riesiger Wal und das, was zuerst die Mitte des Strudels gewesen war, stellte sich nun als sein Blasloch heraus. Damit hatte er das Wasser aufgesaugt und im nächsten Moment stieß er es in einer hohen Fontäne wieder aus. Tim wurde mit der Fontäne in die Luft geschleudert.
Wäre der Himmel nicht so klar gewesen, könnte man sagen, er hätte die Wolken von oben gesehen, aber so war er einfach nur inmitten von Nichts. Von dort aus konnte er auch die anderen Badegäste sehen die scheinbar nichts mitbekommen hatten. Wäre er doch nur nicht soweit hinausgeschwommen. Das Wasser aus dem Wal fiel nun wie ein Regenschauer nach unten. Tim fiel ebenfalls.  Der Wal tauchte indes wieder zurück in die Tiefe, aus der er gekommen war. Der Fall kam Tim ungewöhnlich lang vor, nebenbei hatte er sogar genug Zeit, um sich zu fragen, wie hart man aus dieser Höhe wohl auf das Wasser aufschlagen würde. Auch das hätte er mal den Streber fragen sollen. Er kniff die Augen zusammen und stellt sich vor, er wäre ein Turmspringer, der versucht einen Höhenrekord aufzustellen.
Just in dem Moment, da dieser Gedanke ausgedacht war, spürte er ein Stück Stoff in seinen Händen. Er griff fest zu und der schwarze Stoff spannte sich wie ein Fallschirm über ihn. So segelt er langsam nach unten. Die Augen hielt er geschlossen, bis er festen Boden unter den Füßen spürte, der leicht knirschte, als er aufkam.
Langsam öffnete Tim ein Auge, dann das zweite. Vor sich erblickte er mindestens 10 große Muskelmänner, von denen einer gefährlicher aussah als der nächste. Alle blickten sie ihn grimmig an. Einige hatten große Ohrringe, andere Augenklappen oder große Narben im Gesicht. Tim wich langsam zurück und stolperte über das große Stück Stoff, das ihm das Leben gerettet hatte und das er bis jetzt fest in der Hand gehalten hatte. Erst jetzt sah er was ihm als provisorischen Fallschirm gedient hatte. Es war eine große schwarze Flagge mit einem Totenkopf darauf. 
Nun verstand er auch wo er sich befand. Er war auf einem Piratenschiff gelandet und hatte im Fall die Flagge abgerissen. Das dürfte auch die grimmigen Blicke der Männer erklären.
Die muskelbepackten Fleischberge zückten ihre Säbel und rückten Tim immer näher auf die Pelle. Dieser wich zurück, bis er eine Holzkante hinter sich spürte. Der größte der Barbaren holte gerade zum Schlag aus, als auf einmal innehielt und alles ruhig wurde.
Nur ein leises klok-klok-klok war zu hören, das zunehmend lauter wurde. Die Männer verteilten sich rechts und links und bildeten einen Gang. In der Mitte kam ein weiterer Mann zum Vorschein, mit Zwirbelbart und lockigen Haaren. Auf seinem Kopf trug er eine Kapitänsmütze, groß und schwarz, ebenfalls mit einem Totenkopf geschmückt. Er hob sein Holzbein und trat näher an Tim heran. Der Captain musterte ihn kurz und verzog dann eine noch düstere Miene, als sowieso schon. Langsam beugte er sich zu Tim, der immer noch am Boden saß, herunter.
„Was hast du dir dabei gedacht, Bengel?“ fragte er mit einer Stimme die Tim schon beinahe bekannt vorkam. Sie klang ein wenig wie die des Strebers. Tim wollte antworten, doch ihm fehlten die Worte. Zitternd vor Angst brachte er keinen einzigen Ton heraus.
„Antworte“ schrie der Mann und sein Zwirbelbart bebte. Tim versuchte sich zu beruhigen und formte langsam einen Satz: „Es war nicht meine Absicht Sir Pirat, ich wollte ihre Flagge nicht beschädigen. Bitte lassen sie mich laufen, ich kaufe auch eine neue“.
Der furchteinflößende Mann richtete sich auf, zögerte einen Moment und lachte dann laut. Har har har. Er drehte sich zu seiner Mannschaft und auch die fingen an zu lachen. Har-Har-Har, lachten sie im Chor.
„Was will ich denn mit dieser dämlichen Flagge?“ fragte der Captain spöttisch, „wir haben hunderte davon unter Deck. Sogar in verschiedenen Farben“. Und wieder lachten alle, Har-Har-Har. Plötzlich verstummte der Captain und alle taten es ihm gleich. Er setzte wieder seine finsterste Miene auf. „Du mein Bürschchen“ holte er aus „du bist direkt nach dem Essen ins Wasser gegangen. Weißt du was wir mit dummen kleinen Jungen machen, die mit vollem Magen ins Wasser gehen?“ Tim zeigte sich zwar etwas verwirrt, aber nach allem, was ihm in der letzten Stunde passiert war, konnte ihn eigentlich nichts mehr überraschen. „Ihr lasst sie frei…?“ fragte er vorsichtig. Und wieder erschallte lautes Gelächter „Nein wir werfen sie den Haien zum Fraß vor! Über Bord mit ihm!!“.
Die ganze Mannschaft stürzte sich auf ihn, seine Hände wurden gefesselt und man richtete ihn auf. Dann wurde er Richtung Planke geführt. Dabei sangen die Piraten ein Lied, das ungefähr so ging „Wir sind die Piraten, die Magen-Piraten®, gehst du gesättigt ins Wasser? Ja wirst du es wagen? Wir sind die Magen-Piraten ja so soll es seien, schwimmst du mit vollem Magen, kommst du zu den Haien“
Tim trat auf die Planke. Er hatte diese Szenen sicher schon hunderte Male in Filmen gesehen aber nie damit gerechnet, selbst in diese Situation zu kommen. Na gut, wer erwartet das schon? Als er an der vordersten Kante der Planke angekommen war, sah er die Rückenflossen der Haie, die unter ihm im Wasser kreisten. Er sah keinen Ausweg aus dieser Lage, konnte sich nur noch mit seiner Situation abfinden.
Einer der Piraten gab ihm einen Schubser mit dem Säbel und Tim befand sich mal wieder im freien Fall. Dieser war allerdings nicht halb so lang. Wäre er doch nur nicht mit vollem Magen ins Wasser gegangen, hätte er doch nur auf den Streber gehört und eine Weile gewartet, so wie seine Eltern es ihm immer gepredigt hatten. Das hatte er nun davon. Als er das Wasser berührte, spürte er erst wieder wie kalt es war und schreckte auf.
Einer der Zwillinge hatte ihn mit einem Eimer Wasser begossen, der andere lachte sich kaputt. „Har har har“ schallte sein Gelächter, „Voll erwischt!!“. Tim hätte kaum verdutzter drein blicken können. Was war gerade passiert? Wo waren die Haie und die schief singenden Seeräuber?
Neben ihm saß der Streber, der sich das nassgespritzte Gesicht abwischte. „Ihr dämlichen Vollidioten“, rief er. „Jammer nicht rum“ sagten die Zwillinge im Chor. „Komm lass uns schwimmen gehen“ forderte Mark, der grinsend hinter ihnen stand. Tim blickte neben sich. Auf seiner schwarzen Totenkopfstranddecke stand immer noch der leergefutterte Pommes Teller. „Lieber nicht“ sagte er, „nicht direkt nach dem Essen“.
„Ach sei doch nicht so ein Spießer“ sagte Ned, „Was soll denn schon passieren?“
Tims Blick verharrte für einen Moment auf dem offenen Wasser, das immer noch seicht und ruhig im Sonnenlicht schimmerte. Dann grinste er und legte sich wieder auf seine Decke. Er war sich sicher, er hätte am Horizont kurz eine schwarze Flagge gesehen, aber er erzählte niemals jemandem davon.