Ihr könnt zuerst die Vorschau hier im Blog lesen oder direkt die ganze Geschichte als PDF herunterladen
Tony Menzel
Eine Frage der Zeit
Dienstag
Das weiche Kissen hielt seinen schweren Kopf zurück wie ein Magnet. Nein doch
eher wie ein Schwamm. Ein Schwamm, der ihn aufgesogen hatte, als bestünde er aus
Wasser. Nur war das kein Wasser sondern kalter Schweiß, der an diesem Morgen von
seinem Gesicht herunter lief. Maurice öffnete widerwillig die Augen, um einen Blick
auf seinen Digitalwecker zu werfen, der heute nur schlechte Nachrichten für ihn
bereit hielt. Zum einen war es bereits kurz vor Acht, zum anderen war es Dienstag
und er hatte nur noch drei Tage um sein Essay abzugeben. Und dann war da noch die
Temperaturanzeige des Weckers, die im Moment dreiunddreißig Grad angab. Und das
zu so früher Stunde. Maurice hasste den Hochsommer. Er könnte am kältesten Ort der
Welt leben, so kalt, dass er nach dem Aufwachen Mühe hätte, seine zusammen
gefrorenen Augenlider zu öffnen und es wäre ihm immer noch lieber als das hier.
Erst jetzt nahm er das nervtötende Piepen des Weckers war.
„Blödes Ding!“ rief er und warf ihn in die Ecke des kleinen Zimmers. Sein
Kopf wusste genau wohin er wollte und sank augenblicklich wieder zurück ins
Kissen.
Wie konnte es schon wieder Juli sein? Wo war der Winter geblieben? Er hatte das
Knistern unter seinen Füßen doch so geliebt. Und dann kam der Frühling und mit ihm
dieser Duft nach neuer Frische. Auch nicht schlecht. Die perfekte Zeit um draußen zu
sein, die Semesterferien zu genießen und sich jeden Tag mit Freunden im Park zu
treffen. Wo war diese Zeit geblieben? Eigentlich war er kein einziges Mal draußen
gewesen, wenn es nicht unbedingt nötig war. Viel lieber hatte er eine lange Liste an
Videospielen abgearbeitet, die er zwischen all den Vorlesungen nicht hatte spielen
können. Und dann begann das neue Semester und die Zeit bewegte sich sogar noch
schneller. Maurice hätte schwören können, dass all diese Erinnerungen erst wenige
Wochen zurücklagen und nicht mehrere Monate.
Während er so vor sich hin sinnierte, merkte er irgendwann, dass er wieder
eingeschlafen war und wartete auf das laute Geräusch des zweiten Weckers, das ihn
aus seinen träumerischen Gedanken reißen würde.
Das Geräusch blieb aus und wurde eine Stunde später von einer knallenden Tür
ersetzt, die ihn endlich hoch riss und endgültig den Schlaf verwehrte. Maurice blickte
wieder auf seinen Wecker. Schon kurz nach Neun. Verdammt! Gerade war es doch
noch nicht einmal um Acht gewesen. Er sprang auf, zog eine Hose über, griff im
hinausgehen seine Tasche und machte sich auf den Weg zur ersten Vorlesung.
Wo war nur diese verdammt Zeit geblieben? Er hatte sich kaum daran gewöhnt, die
Zahl 2013 in die obere Ecke seiner Blätter zu schreiben und nun dachte er, bald
wieder den Duft frisch gebackener Plätzchen zu vernehmen, wenn er an Weihnachten
wie üblich nach Hause fahren würde. Noch schlimmer: es war schon wieder
Dienstag. Er hatte sich am Wochenende doch so viel vorgenommen. Das Politik
Essay beginnen, neue Sommerklamotten kaufen und am allerwichtigsten: den
fünfzigsten Level in World of Warcraft erreichen. Die Zeit hatte gerade mal für Level
Neununddreißig gereicht. Was für eine Niederlage.
Und was war mit Montag? Er hatte das Gefühl, die Woche hätte direkt mit Dienstag
gestartet. Aber das konnte natürlich nicht sein.
„So wenig Zeit. So wenig Zeit“, murmelte er vor sich hin bis er seinen
Stammplatz im Hörsaal erreicht hatte.
„Fängst du jetzt schon an, Selbstgespräche zu führen?“, fragte Frederick, neben
den er sich gerade gesetzt hatte, teils höhnisch, teils verwundert. Maurice machte sich
nicht die Mühe, zu antworten. Frederick war sein langjähriger Freund, Kommilitone
und Zimmernachbar, aber heute hatte er absolut keine Lust, mit ihm zu diskutieren.
Sechs Stunden später betrat er wieder sein Studentenzimmer, ließ seinen Rucksack in
die Ecke fallen und sich selbst ohne Umwege aufs Bett. Nun hatte er den ganzen Tag
für sich. Für den kommenden Freitag musste er zwar noch das Essay ausarbeiten,
aber das konnte auch noch bis Mittwoch warten. Vielleicht auch bis Donnerstag...
Maurice war geübt darin, Aufgaben im letzten Moment zu erledigen. Wenn ihm das
jemand zum Vorwurf machte, was nicht selten geschah, rechtfertigte er sich gerne mit
den seltsamsten Argumenten. Er würde unter Druck viel besser arbeiten und
Adrenalin würde sein Gehirn antreiben. Alles Blödsinn...
Dieses nervige Geräusch eines plärrenden Weckers erfüllte den Raum. Dieses Piepen,
das einen erst hochschrecken lässt und dann zu einem nervigen Tinnitus wird, bis die
eigene Hand endlich den Ausschalter erreicht hat. Erst als er das geschafft hatte,
öffnete Maurice endlich die Augen. Wann war er denn eingeschlafen? Ein Blick auf
den Wecker verriet ihm, dass es schon wieder kurz vor Acht war. Er hatte noch nicht
einmal zu Abend gegessen. Sonnenstrahlen fielen durch sein Fenster und brannten
sich direkt in seine Augen. Es würde noch mindestens zwei Stunden dauern, bis die
Sonne endlich verschwand.
Doch sie würde nicht verschwinden. Zumindest nicht innerhalb der nächsten zwölf
Stunden. Als Maurice den, im Verhältnis zum Rest des Zimmers unverhältnismäßig
großen Fernseher einschaltete, wurde er von den vertrauten Gesichtern der
Morgenshow-Moderatoren begrüßt.
„Es ist ein wunderschöner Mittwoch Morgen und wir haben die News des
Tages für Sie -“
Mittwoch? Es war bereits Mittwoch?? Wann war er denn eingeschlafen?
(die komplette Geschichte könnt ihr als PDF herunterladen)
Sehr packend und mitreißend von Anfang an! Ich würde gerne mehr über den Studenten Maurice und seinem Zeitproblem hören! Deine Geschichte wirft eine sehr interessante Frage auf: wie entsteht die Zeit? Ist sie nur eine Einbildung von uns Menschen und entsteht dadurch, wie wir die Vergangenheit in Erinnerung behalten?
AntwortenLöschenIch hoffe ich konnte dich für eine Fortsetzung motivieren!
Danke für das Lob. Freut mich, dass ich die Geschichte spannend gestalten konnte. Ob es eine Fortsetzung geben wird, weiß ich allerdings nicht. Ich glaube das halb-offene Ende sollte schon so stehen bleiben, da sicher die Magie verloren geht, wenn ich zu viel verrate.
LöschenEine tolle Geschichte und ich als Studentin kann mich voll damit identifizieren. Ach, die Examensprüfung ist doch erst am 9.8., es ist doch jetzt erst Ende Juni, wie jetzt, 20.7.? Und ich hab immer noch nicht angefangen. Oder die Zulassungsarbeit, die die Kommilitoninnen schon seit 4 Monaten schreiben und die ich dann in 3 Tagen und Nächten durchgeschrieben habe. Das war Ende März...
AntwortenLöschenMan versieht sich wirklich und dann ist es wieder Weihnachten.
Die Geschichte ist gut geschrieben, und da du Kritik wünscht, hier ein wenig Geplänkel einer Deutschlehrerin:
Vor allem der Anfang der Geschichte könnte ein paar Satzzeichen vertragen.
"Das weiche Kissen hielt seinen schweren Kopf zurück wie ein Magnet. Nein (-) doch
eher wie ein Schwamm. Ein Schwamm, der ihn aufgesogen hatte, als bestünde er aus
Wasser. Nur war das kein Wasser, sondern kalter Schweiß, der an diesem Morgen von
seinem Gesicht herunter..."
Würde auch zum Stil passen. Erst ist alles noch geordnet, die Zeitsprünge sind in nachvollziehbaren "Nickerchen" zu verstehen, die Gedanken sind klar und voneinander abgegrenzt. Später verschwimmt der Zeitstrom und mit ihm die Gedanken.
Zeit und Prokastination hast du super dargestellt, mir sind spontan noch mehr Beispiele eingefallen. Zum Beispiel: anfangen, ein Buch lesen und um 6 Uhr morgens merken, dass man es durchgelesen hat. Auf Wikipedia die Epoche eines Gedichts nachschlagen und über die Links die Geschichte des 2. Weltkriegs, die Bombenabwürfe, die Dresdner Frauenkirche über die Liste der sakralen Bauten in Europa so viele unnütze Informationen angesammelt haben, die man nie im Leben braucht, obwohl man doch eigentlich lernen sollte.
Das Ende ist genau richtig. Offen genug, um den Zauber nicht zu zerstören und konkret genug, um sich vorzustellen, was passiert ist.
Generell hast du mit dem Stil genau die Elemente einer Kurzgeschichte getroffen.
Plötzlicher Einstieg, eine alltägliche Situation, die auf gewisse Weise doch ungewöhnlich ist und ein abruptes offenes Ende.
Eine tolle Kurzgeschichte!
Hey Lisa danke für das ausführliche Feedback. Freut mich, dass dir die Geschichte so gut gefallen hat, mit so viel Lob hätte ich wirklich nicht gerechnet. Dass man Maurice Situation als Student in irgendeiner Weise nachvollziehen kann, war auch mein höchstes Ziel, denn mir geht es eigentlich ständig so wie ihm.
AntwortenLöschenWas die Satzzeichen angeht hast du vollkommen recht. Damit habe ich tatsächlich noch meine größten Schwierigkeiten. In den letzten Geschichten musste ich am Ende wieder sehr viel streichen, weil ich in jeden Satz obsessiv Kommas eingebaut habe, auch an Stellen, wo sie gar nicht hingehören. Deswegen dachte ich mir dieses mal, dass weniger vielleicht besser sei, aber irgendwie muss ich da noch die richtige Balance finden, zwischen Satzzeichen die sein müssen und Zeichen, die man vielleicht auch weglassen kann.