Donnerstag, 14. November 2013

Kurzgeschichte #5: Ertappt!

Seit Beginn des Wintersemesters belege ich das Modul "Literarisches Schreiben", das vom Deutschen Literaturinstitut (in Leipzig) angeboten wird. Klar, dass ich mir das nicht entgehen lassen konnte. Wie erwartet, macht es verdammt viel Spaß und vor zwei Wochen bekamen wir dann auch die erste Schreib(haus)aufgabe. Sie besagte, dass wir einen Text schreiben sollen, der in den ersten zwei Absätzen ein autobiografisches bzw. reales Erlebnis beschreibt und mit dem dritten Absatz einen Bruch einfügt, der den Fokus der Geschichte komplett ändert. Dieser Bruch kann einen neuen Gegenstand einfügen, die Gesetze der Physik außer Kraft setzen, den Erzählstil verändern oder was-weiß-ich.
So ganz habe ich mich nicht an die Aufgabe gehalten, da mein Text doch "etwas" länger ist und schon anfangs stellenweise von der Realität abweicht. Ich bin trotzdem zufrieden mit dem Ergebnis und möchte es euch natürlich auch hier präsentieren.

Wie immer, gibt es auch eine PDF Version, die ihr hier herunterladen könnt: DOWNLOAD


Tony Menzel
Ertappt!

Beginnen wir diese kleine Geschichte mit einigen Statistiken.
• 50% aller Leser hören bereits beim Wort „Statistik“ auf, diese Geschichte zu lesen.
• 30% dieser Geschichte beruhen auf wahren Ereignissen.
• 80% aller Supermärkte wurden auf eine Art entworfen, um Menschen wie mich zu quälen...

Genug der falschen Zahlen. Erst letztens geschah es mal wieder, dass ich, nur so aus Langeweile, durch die Regale eines kleinen Supermarktes stöberte. Obwohl ich nicht vorhatte, etwas zu kaufen, wurde ich doch mal wieder von den Wühltischen angezogen, auf denen man jede Woche neue Sonderangebote finden konnte. Nicht selten verbarg sich darunter ein kleiner Schatz. Etwa ein neues Set Messer für 'nen läppischen 10er, ein neues Paar Hosen zum gleichen Preis oder allerlei Süßkram, um die Hälfte reduziert. Erst recht jetzt, anderthalb Monate vor Weihnachten, war die Auswahl an Schokolade überwältigend. Apropos Schokolade – da fiel mir ein, dass ich noch eine Packung Schokorosinen in meiner Umhängetasche hatte. Jedoch nicht den Kassenzettel...
Und schon setzte wieder dieses heiße Gefühl ein. Meine Ohren wurden rot, ich begann mich unwohl in meiner Jacke zu fühlen, die gerade eben noch angenehme Wärme gespendet hatte und, obwohl ich keine Platzangst hatte, schienen die Wände nun immer näher zu kommen.
Ja, ich wurde schnell nervös, wenn ich mich ertappt fühlte. Auch ohne Schokorosinen in der Tasche, war es ein unangenehmes Gefühl, ohne Einkauf an der Kasse vorbei zu gehen. Und diese war, natürlich so gebaut, dass man sich an den anderen Kunden vorbei drängen musste, um überhaupt noch einmal das Tageslicht sehen zu können. Dieser Aufgabe stand ich nun bevor. Vorbei an der unendlichen Schlange, aus Kinderwagen, Alten mit Gehhilfe, Familien mit übertrieben großen Einkaufskörben und ganz vorne einem Mann, der einen ganzen Wagen voller Caramel-Riegel hatte und so aussah, als würde er zehn davon bereits zum Frühstück verspeisen. Aber ich schaffte es und drängte mich letztendlich auch an ihm vorbei. Jedes mal mit einem Schultertippen und einem schüchternen „Könnte ich mal kurz...“
So erreichte ich also den Ausgang und wurde kein einziges mal angesprochen. Die Kassiererinnen schienen mich nicht einmal wahrzunehmen. Und damit auch nicht die Schokorosinen in meiner Tasche, die während der Aktion an Gewicht zuzunehmen schienen und erst jetzt, da ich mich in Sicherheit wägte, wieder leichter wurden. Das Tageslicht hatte ich zwar noch nicht erreicht, aber das große Einkaufscenter, das besagten Supermarkt mit einschloss. Das reichte mir schon. Ich fühlte mich nun wieder frei und unschuldig. Schließlich war ich das ja auch! Ich hatte die Rosinen bezahlt, eingepackt und dummerweise den Kassenzettel weggeworfen. Na und? Ich begann mich zu fragen, worüber ich mir überhaupt Sorgen gemacht hatte und nahm mir vor, beim nächsten Mal, selbstbewusster zu sein. Zufrieden steckte ich einen Kopfhörer in jedes Ohr und wollte gerade die Musik einschalten, als etwas meine Schulter berührte -

Ich fuhr herum. Vor mir stand ein eher unscheinbarer Mann in seinen 40ern, mit kurzen dunklen Haaren und festen, aber müden Augen, die mich nun ernst ansahen. Eine schwarze Jacke spannte sich über seinen wohl
genährten Bauch. Nicht fett, aber doch auf dem besten Weg dahin. In der Hand, die mir gerade auf die Schulter getippt hatte, hielt er nun einen Ausweis, den er so schnell wieder weggesteckt hatte, dass ich nicht einmal seinen Namen lesen konnte. Diese Arbeit nahm er mir ab.
     „Sauermann mein Name. Ladendetektiv. Dürfte ich kurz einen Blick in Ihre Tasche werfen?“
   Ich war froh, mein eigenes Gesicht nicht sehen zu können, denn in ihm muss jetzt kaltes Entsetzen gestanden haben und das hätte mich nur noch mehr beunruhigt. Sicher gab es irgendeinen biologischen Begriff für dieses Phänomen. Man hatte mich also doch bemerkt. Ich nahm mir einen Moment, bevor ich antwortete. Schließlich wollte ich möglichst selbstbewusst klingen. Und unauffällig. Ja genau, vor allem unauffällig! Die Tatsache, dass ich nichts getan und somit nichts zu befürchten hatte, wurde einfach verdrängt und an ihre Stelle trat nun pure Angst.
     „K-klar können sie in meine Tasche sehen. A-aber ist das denn überhaupt nötig? Ich h-habe nichts gemacht, wissen Sie.“, sagte ich, ohne den kleinsten Funken dieses Selbstbewusstseins, dass ich ihm eigentlich ins Gesicht donnern wollte.
     Dabei hatte ich mir bereits ausgemalt, wie er, überrascht von meiner autoritären Stimme, die müden Augen aufreißen und zurückschrecken würde. Dann würde er auf sein Handy blicken und ihm wäre ganz plötzlich eingefallen, dass er ja noch woanders hin müsste. Pustekuchen. Stattdessen sah er mich nun misstrauisch an und ich hätte ihn dafür am liebsten geohrfeigt. Und vorher mich selbst.
     „Machen Sie es doch nicht unnötig kompliziert! Öffnen Sie nur kurz die Tasche und schon können Sie weitergehen.“
     Während er das sagte und schon seit Beginn unseres Kennenlernens vor etwa 50 Sekunden, waren seine Augen fest auf mich fixiert, wie die eines Adlers, der seine Beute anvisierte. Ich konnte mir sehr gut vorstellen, was dieser, mir vollkommen fremde Mann, gerade empfand. Vermutlich hasste er seinen Job als Ladendetektiv. Da bekommt man doch eh nie etwas zu tun. Nun allerdings, hatte er endlich die Chance, auf seinen großen Fang. Er würde mich nicht einfach mit sich mitnehmen, nein, er würde eine große Szene daraus
machen. Das ganze Einkaufscenter würde im Kreis um uns herum stehen und beobachten, wie er mich in Handschellen abführte.
     „So ein Blödsinn!“, sagte ich zu mir selbst und merkte zu spät, dass ich es laut ausgesprochen hatte.
     „Wie bitte?“, fragte er mit erhobener Stimme. „Klären Sie mich doch bitte auf. Was genau ist Blödsinn?“
    „Ach vergessen Sie es.“, sagte ich, nun etwas selbstbewusster, denn mir war endlich wieder eingefallen, dass ich nichts falsch gemacht hatte. Ich hob meine Tasche, um sie zu öffnen und er sah mir gierig dabei zu, wie ein Spanner, der auf das Klicken des BH-Verschlusses wartet. Ich hasste ihn inzwischen richtig und wusste nicht einmal, warum ich das tat.
Natürlich wusste ich es! Er hatte mir den Tag versaut, ganz ohne Grund. Sauermann versaut euch den Tag. Ich stellte ihn mir in einer Art Reklame für Ladendetektive vor. Ich musste grinsen, hörte aber schnell wieder auf, als ich seinen bösen Blick bemerkte. Stattdessen hielt ich die geöffnete Tasche unter seine neugierige Nase. Bevor er hinein sehen konnte, ertönte eine laute Stimme.
     „Polizei! Lassen Sie die Finger von der Tasche!“
   Der Polizist, in Begleitung seiner zwei Kollegen, stand direkt hinter dem Ladendetektiv und hielt nun seinerseits einen Ausweis nach oben.
    „Nicht schon wieder...“ Der Detektiv rollte genervt die Augen. Sein Gesicht war dabei weiterhin auf meins gerichtet so, dass die anderen es nicht sehen konnte.
     „Der Fall wurde soeben an uns übergeben.“, sagte der Mann in Blau mit Nachdruck und trat näher.
     „Das könnt ihr mir nicht antun!“ erwiderte der Detektiv, nun fasst jammernd und
fügte kleinlaut hinzu „...nicht schon wieder...“
     „Sie wissen wie das läuft. Treten Sie beiseite und überlassen Sie uns alles Weitere!“
     „Schon das fünfte Mal diesen Monat!“, sagte der Detektiv, schickte sich aber bereits an, zu gehen.
     So viel an dieser Szene hätte mich wundern sollen, doch am meisten überraschte mich, dass Sauermann diesen Monat bereits fünf Ladendiebe erwischt hatte. Dass ich mich selbst dabei schon wieder als Ladendieb zählte, überging mein Verstand geschickt.
     „Was ist hier überhaupt los?“, fragte ich.
     „Dieses Einkaufscenter fällt in unser Einsatzgebiet“, antwortete der gleiche Polizist, der zuvor gesprochen hatte.
     Er erinnerte mich an den Anführer einer Jugendgang. Als wäre er der einzige, der sprechen durfte. Dabei unterschied er sich kaum von seinen zwei uniformierten Kollegen. Alle drei mit mittellangen Haaren, leichten Bier- oder eher Donut- und Kaffeebäuchen und weit über 50. Dass unter den dreien auch eine Frau war, spielte dabei keine Rolle.

Der Anführer-Cop, wie ich ihn von jetzt an nannte, forderte mich nun ebenfalls auf, meine Tasche zu öffnen. Der arme Detektiv hatte sich, mit gesenktem Kopf, in seinen Supermarkt zurückgezogen. Also öffnete ich meine Tasche wieder und der Anführer-Cop zückte eine kleine Taschenlampe. Ich wollte ihn darauf hinweisen, dass helllichter Tag war, traute mich aber nicht. Noch bevor er den kleinen Schalter drücken konnte, wurden wir abermals unterbrochen. Neben uns standen plötzlich zwei Männer in dunklen Anzügen und mit nicht weniger dunklen Sonnenbrillen auf den Augen.
     „FBI!“, sagten sie im Chor, „Das ist jetzt unser Fall!“
     „Nicht schon wieder!“, sagte einer der Polizisten, der überraschenderweise nicht der Anführer-Cop war. Ich hatte mich bereits davon überzeugt, dass die anderen beiden vielleicht gar nicht sprechen könnten und wurde nun vom Gegenteil überzeugt.
     „FBI? Hier in Deutschland?“, fragte ich ungläubig, bekam aber keine Beachtung.
Ich war mir inzwischen ziemlich sicher, dass es hier gar nicht um mich, sondern um einen überaus seltsamen Machtvergleich ging. Ich ließ sie also weiter diskutieren und als auch noch das Militär durch die Masse an Zuschauern brach, die sich inzwischen um uns herum versammelt hatten, war ich nicht einmal mehr überrascht. Ehrlich gesagt war es mir auch egal. Ich konnte es kaum fassen, dass ich vorhin noch Angst vor einer Kassiererin gehabt hatte, während die 20 bewaffneten Männer, die mir nun gegenüberstanden, nicht
einmal für eine kleine Gänsehaut reichten. Sie schienen mich auch gar nicht zu beachten, waren sie doch ausreichend mit den Polizisten und Agenten beschäftigt, die von ihrer jeweiligen Zuständigkeit überzeugt waren.

Ich griff in meine Tasche, stellte erleichtert fest, dass die Schokorosinen noch an ihrem Platz waren. Ich zog sie heraus und suchte mir eine nahe gelegene Sitzbank, von der aus ich das Spektakel beobachten konnte. Vergnügt öffnete ich die Tüte und schob mir gleich ein ganze handvoll Rosinen in den Mund, als mir wieder einfiel, dass ich überhaupt keine Rosinen mochte. Neben der Bank stand ein metallener Mülleimer, in dem ich die Tüte mit einem geschickten Wurf versenkte. Einige Zuschauer schenkten mir Beifall und ich ging mit Stolz und erhobenen Hauptes nach Hause.

Und hier noch eine Statistik:
• Nur 25% aller Menschen treffen mit einer Rosinenpackung schon beim ersten Versuch den Mülleimer. Das Highlight meines Tages!

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